Andacht zum Monatsspruch im Mai 2019

Elia am Horeb
Bildrechte Marie-Jeanne Hanquet

Es ist keiner wie du, und ist kein Gott außer dir. (2. Samuel 7,22)

Angesichts der unterschiedlichen und sich oft streitenden oder sogar bekämpfenden Konfessionen und Religionen höre ich Menschen immer wieder den Satz sagen: „Es gibt doch nur einen Herrgott.“

Für uns Christen, katholisch, evangelisch, orthodox oder was auch immer, ist dieser Satz eine Selbstverständlichkeit. Und er ist es inzwischen auch für einen sehr großen Teil der Menschheit: Juden, Christen, Muslime – die sogenannten „abrahamitischen Religionen“ – bekennen sich alle zu dem einen Gott und Schöpfer. Das sind inzwischen etwa 4 Milliarden Menschen.

Andererseits streiten sich diese Religionen und innerhalb der Religionen die Konfessionen darüber, wer genau dieser eine Gott ist, wie genau er zu verstehen und anzubeten ist, was genau er von den Menschen verlangt oder ihnen gibt. Anders gesagt: Diese 4 Milliarden Menschen sind sich zwar einig darin, dass es nur einen Gott gibt, aber sie diskutieren, streiten oder kämpfen sogar darum, in welcher Beziehung genau wir und die Welt zu diesem Gott stehen und Gott zu uns.

Ist das nicht traurig, diese Uneinigkeit?

Wenn es zu hässlichem Streit oder gar Kampf darum kommt, wer Recht hat, dann ist das sehr traurig. Im Laufe der Religions- und Kirchengeschichte haben sich Menschen in solchem Streit und Kampf gegenseitig viel Leid, Tod und Zerstörung angetan.

Andererseits: Wenn Menschen darüber diskutieren und miteinander darum ringen, wie genau Gott zu verstehen ist, wie wir ihm (oder ihr?) und er uns begegnet, dann gehört das zum Menschsein und zu lebendiger Religiosität und Spiritualität dazu. Denn keiner von uns hat „die Wahrheit“ gepachtet oder gar in seinem Besitz – weder die Wahrheit über Gott noch die Wahrheit über die Welt, über die Menschen, über das Universum. Glaubt ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen, doch im Besitz „der Wahrheit“ zu sein (zum Beispiel in Form eines Heiligen Buches oder aber auch eines Ortes, eines bestimmten Rituals oder einer Götterfigur oder eines religiösen Führers), dann stellen sich dieser Mensch oder diese Gruppe mit Gott auf eine Stufe oder sie stellen zumindest das entsprechende Buch, Ritual, den heiligen Ort … mit Gott auf eine Stufe.

Doch Gott ist immer größer und anders als all unsere Vorstellungen, Dogmen, Bilder, Gedanken von ihm. Gott übersteigt jede Wahrheit dieser Welt. Deshalb ist unsere Bibel so vielstimmig, so voller unterschiedlicher, manchmal sogar widersprüchlicher Aussagen und Geschichten über Gott, die Menschen und die Welt. Sie ist ein wunderbares Zeugnis der unterschiedlichen Erfahrungen von Menschen mit dem Lebendigen Gott im Lauf ihrer Lebens- und im Lauf der Weltgeschichte; sie ist zugleich ein Zeugnis des Ringens dieser Menschen darum, Gott und die Welt zu verstehen, mit Gott in Beziehung zu treten, Gott auf angemessene Weise anzubeten, zu loben, ihm zu danken oder auch das eigene Leid und das Unverständnis darüber zu klagen, ja Gott im Extremfall sogar anzuklagen.

Was uns die Bibel dagegen nicht bietet, auch wenn wir es uns manchmal wünschen würden: „die Wahrheit“, die wir wie eine Monstranz oder ein Götterbild vor uns hertragen können; die uns vor jedem Zweifel bewahrt; die es uns erlaubt, über andere Menschen im Namen Gottes zu urteilen; …

Denn die Bibel steht genauso wenig wie irgendetwas oder -jemand anderes in dieser Welt mit Gott auf einer Stufe. Der einzige Mensch, der – so glauben wir Christen – mit Gott auf einer Stufe stand, also gewissermaßen von sich hätte sagen dürfen, er habe „die Wahrheit“ gepachtet; gerade dieser Mensch hat bezeichnenderweise sich selbst verurteilen und hinrichten lassen statt im Namen „der Wahrheit“ die Menschen und die Welt zu verurteilen.

Pfarrer Thomas Miertschischk